Die moderne medizinische Forschung zeichnet sich durch ein evidenzbasiertes Vorgehen aus. Retrospektive Studien sind in diesem Zusammenhang ein probates Mittel, um seltene Krankheiten oder andere schwer zu erfassende Ereignisse zu untersuchen. Es ist Forschern nicht immer möglich, geeignete Probanden zur Beantwortung von Forschungsfragen zu finden und entsprechende Primärdaten zu erheben. Aus diesem Grund kann es vorkommen, dass sich auf bereits bestehende Daten bezogen werden muss. In der medizinischen Forschung wird zwischen zwei grundlegenden Typen retrospektiver Studien unterschieden: analytische und deskriptive Studien. Deskriptive Studien sind in der Regel mit Fallserien (case studies) gleichzusetzen, bei denen verschiedene, in der Vergangenheit aufgezeichnete Fallstudien verglichen werden, um spezifische Fragen zu beantworten. Ein solcher Ansatz kann als nützliche Methode verstanden werden, um Hypothesen abzuleiten, die im Rahmen neu erhobener Primärdaten getestet werden müssen. Der beschreibende Ansatz zeichnet sich dabei durch eine weniger hypothesengeleitete Aufzeichnung der Daten aus, als vielmehr durch eine allgemeine Beschreibung des jeweiligen Falls. Die analytische Ausrichtung retrospektiver Studien zeichnet sich durch ein stärker zielgerichtetes Vorgehen der Datenerhebung aus. Ein typisches Beispieldesign ist die Fall-Kontroll-Studie (case control study), bei der gesunde und kranke Personen miteinander verglichen werden, um potentielle Krankheitsursachen zu identifizieren. Das Einbeziehen retrospektiver Studien zur Bearbeitung eines Forschungsthemas hat mehrere Vorteile. Zum einen spart es Zeit und Ressourcen, bestehende Datenbestände zu verwenden, da keine eigenen Studien konzipiert und durchgeführt werden müssen. Zum anderen lassen sich auf diese Weise selten zu beobachtende Phänomene untersuchen, die unter anderen Umständen nur schwer zugänglich wären.
Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass retrospektive Studien auch schwerwiegende Nachteile mit sich bringen. Die verwendeten Daten werden nicht mit Blick auf aktuelle Forschungsfragen erhoben. Dies impliziert, dass sowohl das Erhebungsdesign als auch die betrachteten Variablen unvollständig oder verzerrt vorliegen. Dieser Datenbias (Datenverzerrung) lässt sich aufgrund der zeitlichen Distanz nicht korrigieren, weshalb die abgeleiteten Erkenntnisse nur eine begrenzte Aussagekraft haben. Aus diesem Grund sollten umfassende Datenbestände, welche anderen Forschern oder der Öffentlichkeit zugänglich sind, sorgfältig auf ihre Passung bezüglich der zu untersuchenden Fragestellung geprüft werden.
Zusammenfassung: Retrospektive Studien finden in der medizinischen Forschung eine häufige Anwendung, um schwer zu erhebende Daten schnell und kostensparend generieren zu können. Dabei können die herangezogenen Studien in beschreibender oder analytischer Darstellung vorliegen. Die so zugänglichen Daten sollten jedoch stets mit großer Sorgfalt verwendet werden, da die Daten nicht für die aktuelle Fragestellung erhoben wurden und aufgrund dessen methodische Verzerrungen aufweisen können.